Vovó Luisa

Nach dem Abendessen am Sonntag im Kreise der Familie ihres Sohnes Jaime fühlte sich Vovó Luisa nicht besonders. Mit unsicheren Schritten ging sie zum Sofa und streckte sich dort aus „Ich muss ein wenig ausruhen, der Tag war anstrengend“. Das stimmte. Am Nachmittag hatte Jaime sie zum Grab ihres jüngsten Sohnes Rui gefahren, der vor einiger Zeit an einem Krebsleiden gestorben war. Und wie immer waren viele Tränen geflossen.

Vovó Luisa hatte vor 5 Jahren dem Drängen ihrer acht Söhne nachgegeben, war von Monte Alexo auf der kapverdischen Insel Fogo nach Brockton in die Vereingten Staaten umgesiedelt und in das Haus ihres Sohnes Jaime eingezogen. Sieben ihrer Söhne lebten bereits in den USA, nur Rubem hatte sich auf der Insel Santiago eine Existenz aufgebaut.

Natürlich, ihr Leben war jetzt leicht: elektrisches Licht, eine Dusche mit warmem Wasser, eine richtige Toilette und eine Küche mit Herd. Kein Kochen mehr mit dem Kessel über dem Holzfeuer, keine roten, brennenden Augen von dem ständigen Rauch, keine Sorge, ob das Wasser der Zisterne wohl reichen wird, alle Nahrungsmittel, die sie sich vorstellen konnte in Hülle und Fülle und noch viel mehr, die sie sich niemals hätte vorstellen können.

Hunger hatte sie öfter gehabt in ihrem Leben. Besonders, als ihr Haus oberhalb von Monte Alexo voller Kinder war und es an manchen Abenden nur für eine dünne Suppe mit etwas Reis und Maismehl reichte. Aber die Nachbarschaft war immer gut gewesen. Alle halfen sich gegenseitig im Haus und bei der Aussaat, dem Hacken und der Ernte und wo echte Not herrschte, fand sich immer auch ein Ausweg.

Und jetzt das Leben in Brockton. Zu Hause würde sie sich hier nie fühlen. Sicher, sie war umgeben von Landsleuten, alle sprachen Kriolu und das frühere Leben in der Heimat war bei den älteren ein ständiges Thema. Aber es war ein fremdes Land, sie sprach kein amerikanisch und würde es auch nicht mehr lernen und lesen und schreiben konnte sie ja sowieso nicht. Auf Fogo war das nie ein Problem gewesen, aber hier ….. Schon zweimal hatte sie sich verlaufen und nur mit Mühe zurückgefunden.

Jaime sagte immer, wie wichtig es doch sei, dass es Ärzte und ein Krankenhaus direkt um die Ecke gäbe. Das war auch bitter nötig gewesen. Vor einem halben Jahr drohte ihr Herz schlapp zu machen und nur eine große Operation mit mehreren Bypassen hatte ihr 80jähriges Leben retten können. Drei Monate hatte sie im Krankenhaus verbracht und so wie früher fühlte sie sich noch lange nicht.

Ach, wie früher – Vovó Luisa spürte den Tod näher kommen und die Sehnsucht nach ihrer Heimat wuchs von Tag zu Tag. Oft telefonierte sie mit ihrer Enkelin Valdira, die als einzige ihrer großen Familie noch auf Fogo lebte und ihr Haus in Monte Alexo bewohnte. Valdira wurde vor 33 Jahren kurz nach ihrer Geburt von der blutjungen Mutter bei Luisa abgegeben und auch der Vater, Luisas Sohn António, zeigte wenig Interesse an seiner Tochter. Nach acht Söhnen jetzt auch noch eine Enkelin großziehen? Aber sie hatte damals keine Wahl und nach kurzer Zeit liebte sie ihre Enkelin über alles.

Noch einmal zurück nach Fogo! Jaime sagte, das sei ja nicht ausgeschlossen, aber erst müsse ihr Herz noch kräftiger werden und natürlich müssten die Ärzte einer solchen Reise zustimmen. Nie im Leben würden die das tun!

Schaut euch mal Luisa an, irgendwie sieht ihr Gesicht merkwürdig aus.“ Jaimes Frau Maria beugte sich über Luisa auf dem Sofa und rüttelte leicht an ihrer Schulter, aber ihre Schwiegermutter wollte nicht aufwachen.

Die Ambulanz war innerhalb von 5 Minuten zur Stelle und brachte Luisa mit Sirene und Blaulicht in die Notaufnahme des Krankenhauses von Brockton. Dort wurde ein schwerer Schlaganfall festgestellt und noch am gleichen Abend wurde sie auf die Intensivstation des Zentralkrankenhauses von Boston verlegt.

Auf beiden Seiten des Atlantik begann jetzt eine Zeit des bangen Wartens. Luisa war mit Schläuchen und Kabeln an lebenserhaltende Geräte angeschlossen und alle Funktionen ihres Körpers wurden ständig überwacht. Aber auch bis zum Mittwochmorgen zeigten sich keinerlei Anzeichen einer Verbesserung der Situation. Seit sie sich auf’s Sofa gelegt hatte, gab es keine Reaktion mehr von Vovó Luisa und die Ärzte sagten, ihr Gehirn sei massiv und unwiederbringlich beschädigt worden. Die Chancen, das Bewußtsein wieder zu erlangen, seinen gleich Null. Sie empfahlen den Angehörigen, einer Abschaltung der Geräte zuzustimmen, um diese aussichtslose Situation zu beenden.

Nach anfänglichem Sträuben und vielen Gesprächen trafen die Söhne am Donnerstag diese traurige Entscheidung. Vovó Luisa hatte wiederholt erklärt, dass sie keine Angst vor dem Tod habe, aber hoffe, dass er sanft und ohne große Schmerzen kommen möge. Dieser Fall war jetzt eingetreten und die Söhne waren zu der Überzeugung gekommen, dass ihre Entscheidung auch im Sinne ihrer Mutter sei. Sollte bis Freitagmittag keine Verbesserung eingetreten sein, würden die Geräte abgeschaltet bzw. entfernt.

Bereits am Donnerstagnachmittag wurde in Brockton/Massachusetts, in Assomada auf Santiago und in Monte Alexo auf Fogo mit den Vorbereitungen für die Trauerfeierlichkeiten begonnen und insbesondere für Monte Alexo wurden große Mengen an Lebensmittel eingekauft. Luisa hatte sich zu Lebzeiten den Ruf einer außerordentlich klugen und einfühlsamen Frau erworben, die in komplizierten Situationen um Rat gefragt wurde und mit schwierigen Menschen umzugehen wusste. Und sie hatte die Geselligkeit geliebt. Wann immer sich ein Anlaß bot, war ihr Haus voller Menschen und alle liebten diese Feste. Auch wenn sie schon vor fünf Jahren Fogo verlassen hatte, so war Luisa im Gedächtnis vieler Menschen noch immer sehr lebendig und eine entsprechend große Anzahl von Trauergästen wurde in ihrem Haus in Monte Alexo erwartet.

Die Trauerzeremonie folgt auf Fogo festen Regeln. Sieben Tage lang steht das Haus der trauernden Familie allen offen, die ihr Beileid bekunden und Abschied nehmen wollen. Neben dem ersten Tag werden besonders am dritten und siebten die meisten Trauergäste erwartet. Viele Gäste kommen zu Fuß von weit her und müssen für eine Nacht im Hause untergebracht werden. Und natürlich gehört es zur guten Tradition, alle Gäste anständig zu bewirten.

Für Foguenser ist es üblich, ihrer Trauer laut und im besten Sinne theatralisch Ausdruck zu verleihen. Besonders die Frauen stimmen eine Klage an, die von lautem Schluchzen, Schmerzensschreien und einem monotonen Gesang geprägt ist und wenn das Haus am Hang liegt, sind diese Trauerbekundungen über Kilometer zu vernehmen.

Am Freitagabend traf die Nachricht von der Abschaltung aller lebenserhaltenden Geräte bei Sohn Rubem auf der Insel Santiago ein und seine Frau Terezinha brach in lautes und heftiges Wehklagen aus, das in einem Telefonat sofort auf die Insel Fogo weitergeleitet wurde. Ein Gespräch im eigentlichen Sinne kam zwar nicht zustande, aber die Botschaft des herzzerreißenden Schluchzens war eindeutig: Vovó Luisa war gestorben.

Diese Nachricht verbreitete sich über facebook in Windeseile auch auf Fogo und schon nach wenigen Minuten strömten die Nachbarn herbei und das Wehklagen hielt über Stunden an.

Die Trauerrituale begannen erneut in der Morgendämmerung des Samstags und im Laufe des Vormittags kamen unzählige Menschen aus allen Teilen der Insel.

Ältester Besucher mit 105 Jahren war Orlando, der Onkel Luisas. 105 Jahre war jedoch nur sein offizielles Alter. Als seine Mutter die Geburt im Kirchenbuch eintragen lassen wollte, war Orlando bereits 3 Jahre alt. Da die Mutter auf die Frage nach dem genauen Geburtstag keine konkrete Antwort geben konnte, wurde kurzerhand das aktuelle Datum eingetragen und Orlando so um 3 Jahre verjüngt.

Gegen Mittag erreichte der Strom der Trauernden seinen Höhepunkt, wobei die Aussicht auf eine reichhaltige Mahlzeit für manche auch ein Beweggrund gewesen sein mag. Im Haus in Monte Alexo konzentrierten sich die Gäste auf zwei Orte: der größte Raum war als Trauer- und Klageraum eingerichtet worden, die Glasvitrine und der Spiegel waren verhängt, die Trauernden saßen dicht an dicht auf Stühlen entlang den Wänden und die Luft war erfüllt von lautem Klagen.

Ein anderer Teil der Besucher drängte sich im Innenhof um den großen Tisch, um einen Teller Cachupa oder Thunfisch mit Reis und Bohnen in Empfang zu nehmen. Nicht, dass zu wenig Essen da gewesen wäre, aber die Anzahl der Teller und Löffel war beschränkt und so brachte man das Geschirr nach Gebrauch sofort wieder zum Spülen, damit die Nächsten an die Reihe kommen konnten.

In diese Situation platzte ein Anruf von Jaime aus Brockton, der nur kurz mitteilen wollte, dass der Zustand Luisas weiterhin äußerst kritisch sei.

Es dauerte einen Moment, bis die ersten die Bedeutung dieser Nachricht verstanden hatten. Dann ging es wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund: Luisa lebt! Die Verwirrung war ziemlich umfassend, für so eine Situation gab es keinen Plan. Die Frauen im Trauerraum wurden gebeten, ihr Wehklagen zu beenden, den Neuankömmlingen wurde bedeutet, dass sie ihren Weg umsonst gemacht hätten und die letzten in der Schlange vor der Küche wussten nicht so recht, ob sie unter diesen Umständen noch um einen gefüllten Teller bitten durften.

Manche begannen zu lachen und sagten, Luisa sei wirklich schon immer eine ganz bemerkenswerte Frau gewesen. Und so nahm diese Zusammenkunft den Charakter eines dieser Feste an, die Luisa so sehr liebte.

Am späten Nachmittag zerstreuten sich die Besucher wieder, nur die nächsten Verwandten und Nachbarn blieben im Hause. Es musste ja weiterhin jederzeit mit dem Ableben Luisas gerechnet werden.

Am Sonntagmittag traf ein weiterer Anruf von Jaime ein. Luisa war am Morgen um 8.00 Uhr lokaler Zeit sanft gestorben ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben.