
Der Ärger begann eigentlich schon direkt nach dem Aufstehen: Carla war weg. Irgendwie musste sie den Huf aus der Schlinge gezogen haben. An ihrem Pflock hing nur noch der Strick. Luisa lief oben zwischen den Felsen hin und her und rief nach ihr, aber Carla war viel zu schlau. Man konnte sie nur finden, wenn sie gefunden werden wollte.
Die Sonne war gerade hinter der Bodeira aufgegangen und in einer Stunde würde es richtig heiß sein.
„Carla ist bestimmt zu Alfredo, vor seiner Hütte steht noch ein bisschen altes Gras. Aber stell mal eine Schale mit Wasser raus, Val, dann kommt sie sicher bald zurück.“
Heute also keine Milch vor der Schule. Wenigstens gab es noch einen Rest von der Catchupa von gestern Abend. Draußen pfiff auch schon Dina, es wurde Zeit.
Unten an der Kreuzung wartete Joanina, die dritte im Bunde der unzertrennlichen Freundinnen, aber natürlich wollte Valdira zuerst noch Nelli begrüßen, den Hund von Nitas Nachbarn. Er war immer mit einer Leine am Stamm eines Rizinusbusches festgebunden, konnte stundenlang kläffen und viele hatten Angst, in seine Nähe zu kommen. Aber Val und Nelli waren beste Freunde und die Begrüßung war jedes Mal stürmisch.
„Jetzt hör mal auf zu knuddeln, Val, wir waren gestern auch schon zu spät! Oder hast du Lust auf das Lineal?“
Vovó Luisa sagte immer, dass Sr. Gomes ein sehr guter Lehrer ist und dass er sogar in Praia studiert hat, aber wenn er einem mit dem Lineal auf die Hand schlug, tat das höllisch weh. Am gemeinsten war es, wenn er es nicht selber tat, sondern es die beste Freundin machen musste. Die Finger zurückbiegen und dann mit dem Lineal zuhauen. Und wenn man die Hand weg zog oder der Schlag nicht fest genug war, musste man es noch mal machen.
Die drei Mädels liefen weiter in Richtung Nhuco, wo ihre Schule schon auf sie wartete und noch lange hörten sie hinter sich das Gebell von Nelli.
Vor der kleinen Schule warteten auch schon die anderen, sogar Vasco, der sonst immer der letzte war. Herr Gomes war noch nicht da und das war seltsam. Er kam aus São Filipe und war immer pünktlich. Die Jungs lungerten unter dem riesigen Baobab rum, der neben der Schule stand und warfen mit Steinen nach den Früchten, aber bislang hatten sie noch keine Calabaceira runtergeholt.
Und dann sahen sie Sr. Gomes mit seinem Moped den staubigen Weg hochkommen. Aber er fuhr nicht, sondern er schob es vor sich her. Dann hatte er heute sicher ganz besonders schlechte Laune.
Valdira ging nicht besonders gerne in die Schule. Eigentlich war sie eine ganz gute Schülerin, aber wegen ihrer Größe musste sie sich oft blöde Sprüche anhören, besonders von den Jungen. Sie war schon immer die Größte in ihrer Gruppe gewesen, auch im Kindergarten, aber da hatte das keine Rolle gespielt. Jetzt in der Schule war sie die „Bohnenstange“, weil sie auch noch ziemlich dünn war.
Heute hatte Vasco ihr von hinten in die Kniekehlen getreten, als sie gerade mit ihrem Teller zu ihrem Platz gehen wollte. Dabei hatte sie die Hälfte der Suppe verschüttet und dann kam auch noch Greta, die Kochfrau, und ranzte sie an, ob sie nicht besser aufpassen könne. Und aufwischen musste sie auch noch.
Auf dem Rückweg kurz hinter Nhuco, wo es steil bergab geht, passierte das nächste Unglück. Valdira rutschte auf dem glatten Pflaster aus und der Steg von einem Flip-Flop löste sich aus der Sohle. Vasco, der mit seinen Kumpels hinter den Mädels gegangen war, grinste: „Na, Hinkefüßchen“. Nur er und noch zwei Jungen trugen richtige Turnschuhe, die anderen hatten Flip-Flops vom Chinesen aus São Filipe. Deshalb wurden sie auch „Chinelos“ genannt
Valdira und Dina versuchten, den Chinelo wieder zu reparieren, aber da war nichts zu machen, der Steg war ausgerissen. Und das Straßenpflaster war jetzt am Mittag so heiß, dass man darauf nicht barfuß gehen konnte, nur im Sand neben der Straße. Aber da waren überall diese ekligen Ranken mit den Dornen und es dauerte nicht lange, da hatte Valdira in einen getreten. Aber es half ja nichts, sie mussten weitergehen, zumindest bis Ramiro.
Ramiro hatte einen kleinen Krämerladen bei der Abzweigung nach Cisterno und schon beim Eintreten roch es stark nach Grogue. Jeden Tag versammelten sich hier die Männer aus der Umgebung, die keine Arbeit hatten, hielten ein Schwätzchen und tranken Schnaps. Kein guter Ort für junge Mädchen und Valdira, Dina und Joanina wußten das auch. Aber bis zum Haus von Luisa waren es noch drei Kilometer und vielleicht konnte Ramiro ja helfen.
„ Sieh mal an, die jungen Fräulein von Achada Fora. Ramiro, was für ein Glanz in deiner Hütte“
„Ach, halt den Schnabel, Pedro!“ Dann blickte Ramiro auf Valdira.
„Du bist doch die Tochter von Luisa, was kann ich denn für dich tun?“
„Ich bin Valdira, Luisas Enkelin. Mir ist der Chinelo kaputt gegangen und dann bin ich in Dornen getreten und es hat geblutet.“
„Da hilft nur ein Grogue zum Desinfizieren!“ feixte Pedro.
„Pedro, du fliegst gleich raus!“ Und zu Valdira gewandt sagte Ramiro:
„Valdira, zeig mal her. Vielleicht kriegen wir das ja wieder hin.“
Ramiro zündete eine Petroleumlampe an und holte ein altes verbogenes Messer unter dem Ladentisch hervor. Er nahm den Chinelo und schob den Steg durch das Loch in der Sohle. Dann erhitzte er die Klinge über der Flamme der Petroleumlampe, brachte das Plastik mit der heißen Klinge zum Schmelzen und strich es glatt.
„So, bis zu Luisa wird es wohl halten. – Und du, Pedro, spendierst den Mädchen einen Bonbon.“
Mit Ramiro wollte es sich niemand verscherzen und so griff Pedro in das Glas mit den Süßigkeiten und fischte drei Bonbons heraus. Die Mädels bedankten sich artig bei Ramiro und auch bei Pedro, machten einen Knicks und setzten ihren Weg in Richtung Bordeira und Luisas Haus fort.
Das erste, was Valdira hörte, war das Gemecker von Carla. Oben angekommen sah sie Carla wie immer angebunden an ihrem Pflock.
„Sie ist von alleine zurückgekommen, plötzlich stand sie einfach da.“
Valdira streichelte Carla über den Kopf und dann holte sie die Wanne.
„Val, was hast du da denn?“
Valdira stand in der rosa Plastikwanne, Luisa goß ihr Wasser über den Kopf und Valdira seifte sich ein. Das tägliche Ritual nach dem staubigen Weg von der Schule nach Hause. Nachbarin Nita, die gerade ein paar Eier vorbeigebracht hatte, saß auf der Kante der Zisterne und schaute zu. Und da entdeckte Luisa diesen dicken Pickel an Valdiras Hüfte.
„Sieht aus wie ein Furunkel – da brauchen wir alte Spinnennester. Am Ziegengatter von Alfredo habe ich viele gesehen. Wir holen nachher mal welche.“
Das beste Mittel gegen Furunkel waren die verlassenen Kokons der schwarzen Spinne, die es überall zu Hunderten gab. Den Kokon tat man in eine kleine Schale und verrührte ihn mit ein paar Tropfen Aloe-Vera-Saft. Diesen Brei schmierte man dann auf das Furunkel und es verschwand innerhalb von 3 Tagen.
Nita war aufgestanden und begutachtete nun ebenfalls den Pickel.
„Es könnte aber auch ein Hundewurm sein.“
Nita tat einen Tropfen Spucke auf ihren Zeigefinger und tupfte die Flüssigkeit vorsichtig auf den Pickel.
„Guck mal Luisa, da bewegt sich was. Es ist tatsächlich ein Hundewurm.“
„Aber wir haben doch gar keinen Hund – Val, hast du einen Hund angefasst?“
„Nur Nelli unten, wir sind Freunde.“
„Was?! Diese verlauste, räudige Töle?“ Nita war entsetzt.
„Und was machen wir jetzt? Zum Krankenhaus nach São Filipe?“
Luisa schaute Nita ratlos an.
„Ich will aber nicht ins Krankenhaus!” Valdira kamen die Tränen.
„Musst du auch nicht, das machen wir hier. Habe ich bei Elton auch schon mal gemacht.“
Elton war Nitas jüngster Sohn. Er war vor einigen Jahren ausgezogen, lebte jetzt in der Hauptstadt Praia bei Onkel Caruso und war bei einer Versicherungsfirma angestellt. Nur im Urlaub kam er noch mal zu Besuch zu seiner Mutter.
Nita setzte sich vor die Hauswand und streckte ihre Beine aus.
„Setz dich mal zwischen meine Beine, Val. Eins lege ich dann über deine Beine, damit du auch schön stillhälst. Und Vovó Luisa fasst deine Hände an. Und dann hole ich den kleinen Burschen raus.“
„Tut das auch nicht weh?“
„Höchstens ein kleines bisschen, geht aber ganz schnell.“
Valdira schaute ihre Großmutter ängstlich an. Die lächelte etwas angestrengt und nickte.
„Ja, so machen wir das, ist gar nicht schlimm.“
Nita legte ihre beiden Daumennägel um den Pickel und begann zu drücken. Valdira fing an zu stöhnen.
„Es tut doch weh!“
Nita drückte weiter und Valdira begann zu schreien, aber noch war der Pickel geschlossen. Nita erhöhte den Druck und Valdira wand sich hin und her. Sie brüllte jetzt wie am Spieß. Endlich platzte die dünne Haut auf. Zuerst kam etwas Eiter und dann rutschte der Hundwurm heraus, zuerst der dunkle Kopf und dann der weiße Körper. Nita drückte noch ein wenig, damit noch etwas Blut austreten konnte und dann nahm sie die Hände von Valdiras Hüfte.
„Geschafft!“
Valdira hatte aufgehört zu brüllen und schluchzte jetzt jämmerlich vor sich hin.
„Willst du ihn mal sehen, Val?“
„Nein, tu ihn weg!“
Luisa war sichtlich erleichtert. Sie hatte mitgelitten und streichelte ihrer Enkelin jetzt sanft über das Haar.
„Nachher gehen wir zu Ramiro und du kriegst eine Tüte Bonbons, kannst du auch selber aussuchen.“
„Oder einen Maracujasaft?“
Valdira hatte sich von der Prozedur ziemlich schnell erholt. Die Tränen hatten Spuren auf ihren Wangen hinterlassen, aber die Augen blitzten schon wieder.
Auf dem Rückweg von Ramiro nippte Valdira zufrieden an ihrem Maracujasaft.
„Vo, ich glaube, das war der schlimmste Tag in meinem Leben.“