Immer wieder wanderte Luisas Blick zu der kleinen, senkrechten Wolke ĂŒber dem
Kraterrand. Eigentlich sah sie harmlos aus, aber sie erinnerte Luisa an den letzten Vulkanausbruch in der ChĂŁ das Caldeiras. Das war jetzt schon 44 Jahre her. Sie war damals 9 Jahre alt gewesen. Ihre Familie hatte den Krater ĂŒberstĂŒrzt verlassen mĂŒssen und fast ihr ganzes Hab und Gut verloren. Nur das, was ihre Eltern, die beiden Schwestern und sie auf dem RĂŒcken tragen konnten, hatten sie retten können. In Cabeça do Rei, in der NĂ€he ihrer Tante Maria, hatten sie dann schlieĂlich ein neues Zuhause gefunden.
Luisa war auf dem RĂŒckweg von Alexo BrandĂŁo. Dort hatte sie bei Ramiro ein paar
Sachen gekauft, die sie jetzt in einem kleinen BĂŒndel auf dem Kopf nach Hause trug.
Und gerade eben hatte sie wieder das GefĂŒhl, als wĂŒrde der Boden unter ihren
FĂŒĂen vibrieren. Aber mit diesen Flip Flops, die sie seit einiger Zeit trug, war das nicht mehr so leicht zu sagen.
Hoffentlich war mit Valdira alles in Ordnung. Luisa hatte ihre 4-jÀhrige Enkelin vor drei
Stunden allein zu Hause gelassen, weil sie ihr diesen anstrengenden Gang nicht zumuten
wollte. Bestimmt spielte sie gerade im Schatten hinter dem Haus und Nachbarin Rita wĂŒrde sicher ein wachsames Auge auf sie haben.
Valdira beobachtete gebannt den Schatten der Hausecke. Er kroch unglaublich langsam auf einen Strich im Sand zu. Manchmal dachte sie, dass er sich gar nicht bewegen wĂŒrde, aber doch, der Abstand wurde kleiner. Vovo Luisa hatte den Strich in den Sand geritzt. âWenn der Schatten beim Strich angekommen ist, kannst du das Tuch von der Schale nehmen, vorher nichtâ, hatte Vovo gesagt. Gleich musste es soweit sein.
Auf dem wackeligen Holztisch in ihrer HĂŒtte stand eine Porzellanschale, daneben ein Löffel. Die Schale war mit einem karierten Tuch abgedeckt, aber Valdira wusste, was darin war: MaisklöĂchen mit Ziegenmilch.
Jetzt! Sie lief ins Haus, setzte sich an den Tisch und begann zu löffeln. In diesem Moment
erschien ein krummer, schwarzer Schatten in der TĂŒr. âNa, meine Kleine, so fleiĂig beim
Essen? Was gibt es denn Schönes?â Valdira blickte Ă€ngstlich auf die Gestalt und sagte kein
Wort. Sie hatte die Frau schon mal gesehen. Es war Elvira. Sie lebte allein weiter oben in
den Bergen und wenn die Nachbarn ĂŒber sie sprachen, fingen sie immer an zu flĂŒstern.
âKannst du mir nicht was abgeben? Ich habe auch Hunger.â Valdira umklammerte ihre
Schale.
Elvira kam langsam nĂ€her. âNun sei nicht so, ich bin doch deine Nachbarin.â Valdira sagte
noch immer nichts. Elvira trat noch einen Schritt nĂ€her und stĂŒtzte sich auf den Tisch. âNur ein bisschen – fĂŒr eine arme, alte Frau.â Jetzt streckte sie ihre knochige Hand aus.
Eine Woge von Panik ĂŒberrollte Valdira. â Nein!â kreischte sie und beugte ihren ganzen
Oberkörper ĂŒber die Schale. âGeh weg!â
Elvira wich einen Schritt zurĂŒck. âUndankbares Balg“, murmelte sie und ein paar Worte in einer fremden Sprache.
In diesem Moment erschien noch eine Person in der TĂŒr. Es war Rita. Elvira zwĂ€ngte sich an ihr vorbei, den Blick gesenkt und redete weiter in dieser seltsamen Sprache. Dann ging sie mit weit ausholenden Schritten den Berg hinauf.
Rita setzte sich neben Valdira und legte ihr einen Arm um die Schultern. âAlles ist gut, sie ist ja weg.â Valdira löste sich aus ihrer Erstarrung und fing an zu weinen.
Gleich ist es geschafft! Luisa stapfte die letzten Meter zu ihrem Haus hinauf. Die HaustĂŒr
stand offen. Drinnen saĂen Valdira und Rita am Tisch, Valdira rieb sich die Augen und vor ihnen stand die Schale mit den MaisklöĂen. âDu hast ja gar nichts gegessen, was ist denn
los?â
âElvira war hier, die alte Hexe von oben“, sagte Rita. Und dann erzĂ€hlte Valdira unter
TrÀnen, was passiert war.
âIrgendwie muss sie mitgekriegt haben, dass Valdira alleine war. Aber jetzt ist ja alles gut,â sagte Luisa und an Valdira gewandt: „Willst du schon mal ins Bett gehen, Val?â „Ja“, schluchzte Valdira.
Mitten in der Nacht wachte Luisa auf. Valdira rĂŒttelte an ihrer Schulter. âVovo, mir ist
schlecht.â Luisa setzte sich auf. âIch mache dir mal einen Pfefferminztee, das hilft immer.â
Sie ging zur Feuerstelle und zum GlĂŒck war noch Glut unter der Asche. Sie legte ein paar
Hölzer nach und kurz darauf summte das Wasser im Teekessel. Die Pfefferminze hing
neben vielen anderen KrĂ€utern in kleinen BĂŒndeln am Deckenbalken. Luisa zupfte ein paar BlĂ€tter ab und warf sie in das siedende Wasser.
FĂŒnf Minuten spĂ€ter brachte sie ihrer Enkelin einen Becher mit dem dampfenden Tee ans
Bett. Valdira lag zusammengekrĂŒmmt unter der Decke und zitterte. âMein Bauch, es tut so
weh.â
âNun trink mal den Tee, dann wird es besser. Aber pass auf, er ist noch sehr heiĂ.â
Doch auch bei Sonnenaufgang ging es Valdira nicht gut. Ihre Stirn war heiĂ, die
Bauchschmerzen hielten trotz des Tees weiter an und sie hatte sich schon zweimal
erbrochen. Luisa hatte ihr vorsichtig den Bauch massiert, aber auch das nutzte nichts. Luisa wusste nicht mehr ein noch aus. Sie lief zu Rita rĂŒber, um sie um Hilfe zu bitten und dann saĂen beide am Bett von Valdira und schauten sich ratlos an.
SchlieĂlich sagte Rita: „Elvira hat das angerichtet, also muss sie es auch wieder aus der
Welt schaffen.â
Luisa band sich ihr grĂŒnes HĂŒfttuch um und Rita half ihr, Valdira darin zu verstauen. Diese wimmerte leise vor sich hin, zum Laufen war sie schon zu schwach. Und so machte sich Luisa mit ihrer Enkelin auf den Weg nach oben zur HĂŒtte von Elvira.
Luisa fĂŒrchtete sich vor der Begegnung mit Elvira. Was sollte sie ihr sagen? Elvira hatte ja
eigentlich nichts gemacht, nur um Essen gebeten. Was, wenn Elvira sie einfach nur
auslachen wĂŒrde?
Der Weg mit Valdira auf dem RĂŒcken war anstrengend und mehrmals rutschte sie auf dem
Geröll aus, aber jedes Mal konnte sie sich wieder fangen – Gott sei Dank. Valdira weinte
leise vor sich hin und Luisa keuchte den Berg hoch, voller Sorgen und Zweifel.
Sie biss die ZĂ€hne zusammen und dann spĂŒrte sie, dass da noch etwas anderes war, etwas
Neues: sie war wĂŒtend! WĂŒtend auf diese alte, böse Frau, die plötzlich in ihr Leben
eingebrochen war und dem Menschen etwas angetan hatte, der ihr am meisten bedeutete.
Luisas Wut wurde mit jedem Schritt gröĂer und sie ging schneller. Sie blickte wieder zur
Bordeira hinauf, die senkrechte Wolke war gröĂer und dunkler geworden.
Elviras HĂŒtte war die letzte vor dem steilen Anstieg zur Bordeira. Man konnte sie nur ĂŒber
einen schmalen, staubigen Pfad erreichen, der eine Ribeira durchquerte und als sie
hinabstiegen, war sich Luisa sicher: der Boden hatte wieder vibriert.
Luisa riss die TĂŒr auf, ohne anzuklopfen. In der HĂŒtte war es dunkel und im ersten Moment sah sie nach der Wanderung im gleiĂenden Sonnenlicht gar nichts. Dann erkannte sie Elvira schemenhaft auf einer Bank. Sie hatte gerade ihre Pfeife aus dem Mund genommen. Der ganze Raum war voller Tabakschwaden, die sich mit dem Rauch von der Feuerstelle mischten. Elviras HĂŒtte hatte keinen Schornstein und der Qualm zog direkt durch das kleine Fenster ab.
Elvira war bei Luisas Eintreten zusammengezuckt und betrachtete ihre Pfeife. âLuisa, du
hier. Ein seltener Besuch, was gibt es denn?â
Luisa brachte keinen Ton heraus, nur ihre Augen hielt sie starr auf Elvira gerichtet, Valdira wimmerte leise.
Sekunden vergingen, es waren die lÀngsten in Luisas Leben. Die Beine schmerzten, der
Mund war trocken und die Zunge geschwollen. Ihr Kopf war wie leergefegt, sie hatte die
FĂ€uste geballt, stand nur da und funkelte Elvira an.
Das Schweigen wurde unertrÀglich und Elvira hob langsam den Kopf. Die Blicke der beiden Frauen begegneten sich und verkrallten sich ineinander. Elvira wollte den Blick abwenden, aber es gelang ihr nicht. Und noch immer brachte Luisa kein Wort heraus.
Elvira begann zu stöhnen und wand sich auf der Bank hin und her. Dann sprang sie plötzlich auf und rannte an Luisa vorbei ins Freie. Vor der HĂŒtte stieĂ sie einen Blecheimer um, der scheppernd ĂŒber die Steine rollte. Sie krĂŒmmte sich zusammen und Luisa konnte hören, wie sie wĂŒrgte und sich schlieĂlich erbrach.
Luisa stand noch einen Moment wie versteinert in Elviras HĂŒtte, dann ging sie langsam zur TĂŒr und trat hinaus. Valdira hatte aufgehört zu weinen.
Elvira war noch immer vornĂŒber gebeugt und stĂŒtzte sich mit einer Hand an der Hauswand ab. Sie atmete schwer und starrte Luisa bleich und mit vor Schreck geweiteten Augen an.
Diese hielt kurz inne, ging dann aber an ihr vorbei und zurĂŒck auf den Weg, den sie
gekommen war.
Wieder vibrierte der Boden, diesmal deutlicher als zuvor und Luisa meinte, ein fernes Grollen zu hören. Es war etwas in Bewegung gekommen, NÎs Burkan, der Vulkan in der Chã, war zu neuem Leben erwacht.
Als sie an der Ribeira ankamen, sagte Valdira mit ihrer hellen Kinderstimme: âVovo, laĂ mich runter!â