Luisa singt

„Wegen euch blöden Viechern breche ich mir noch mal die Beine.“ Luisa stolperte hinter ihrem Haus zwischen den Felsen herum und auf ihre HĂŒhner war sie gerade gar nicht gut zu sprechen. TatsĂ€chlich legten die ihre Eier an den unmöglichsten Stellen und man musste die ganze Gegend absuchen, um sie zu finden. Und man durfte keines ĂŒbersehen, sonst hatte man spĂ€ter ein faules dabei. Luisa hatte auch schon mal probiert, die HĂŒhner einzuzĂ€unen, aber dann legten sie ĂŒberhaupt nicht mehr – jedenfalls viel weniger.

Luisa stellte den Holzkorb auf einen grossen Stein und blickte zum Haus hinunter. Auf dem Pfad nĂ€herte sich eine Gestalt. Dem Gang nach konnte es eigentlich nur Nita sein. Nita war ebenfalls Witwe und wohnte alleine in einer HĂŒtte 200 Meter weiter unten. Sie war ganz in schwarz gekleidet. Komisch eigentlich – Nitas Mann war doch seit ĂŒber 3 Jahren tot und sie hatte die Trauerkleidung im letzten Jahr schon nicht mehr getragen.

Luisa nahm den Korb und ging Nita entgegen. „Oi Nita, willst du zu mir? Ist was passiert? Ist wer gestorben?“ Nita guckte ziemlich perplex, öffnete den Mund, aber außer einem „Äh“ brachte sie nichts heraus.

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Luisa wohnte schon immer in diesem Haus. Nach dem Tod ihrer Eltern war es in ihren Besitz ĂŒbergegangen und ihre acht Söhne wurden hier geboren. Sieben von ihnen waren in die USA ausgewandert. FĂŒnf nach Brockton in Massachusetts und zwei nach Florida – genauso, wie es die meisten aus der weitlĂ€ufigen Verwandtschaft vor ihnen und auch nach ihnen gemacht hatten. Die Vorstellung, dass man nur dann ein gutes Leben haben kann, wenn man es schafft, den Kapverden den RĂŒcken zu kehren, war ĂŒbermĂ€chtig – seit Jahrhunderten. Und wer weiß, vielleicht stimmte das ja auch. Bis auf Rui gab es von allen Söhnen nur erfreuliche Nachrichten. Orlando war jetzt sogar Arzt am Brockton Hospital.

Trotzdem, Luisa liebte ihr Leben in Monte Alexo mit den HĂŒhnern und Ziegen. Aber ehrlich gesagt war es nur deshalb möglich, weil ihre Kinder jedes Jahr ein Fass mit Lebensmitteln, Kleidung, vielen anderen nĂŒtzlichen Dingen und auch ein paar Dollar schickten. Im letzten Jahr war das besonders wichtig gewesen. Es hatte im Juli geregnet und Luisa hatte Mais und Bohnen ausgesĂ€t und dann kam kein Tropfen mehr vom Himmel. Die Pflanzen liefen auf und vertrockneten wieder – was fĂŒr ein trauriger Anblick.

Gestern hatte Luisa den Wasserstand in ihrer Zisterne gemessen. Noch fĂŒnfzehn Zentimeter. In zwei Wochen war Schluss und dann musste sie mit dem 20-Liter-Eimer zur öffentlichen Zisterne runter und das Wasser auf dem Kopf den Berg hochtragen. Sie hatte das schon einmal gemacht vor vier Jahren, als es ĂŒberhaupt nicht geregnet hatte. Vielleicht sollte sie schon jetzt damit anfangen und das restliche Wasser als Reserve behalten.

Mit dem ausbleibenden Regen wurde es auch tĂ€glich mĂŒhseliger, das Futter fĂŒr die HĂŒhner und Ziegen zu beschaffen. Die Wege zu den letzten Stellen, wo noch vertrocknetes Gras oder Stroh stand, wurden immer lĂ€nger. Vier KĂ€se stellte Luisa tĂ€glich her, an guten Tagen auch fĂŒnf. DafĂŒr reichte die Milch der 10 Ziegen aus. Alle drei Tage kam Nilton mit seinem Pick-up vorbei, holte den KĂ€se ab und brachte ihn zum Markt nach SĂŁo Filipe. Sechzig escudos bekam sie fĂŒr jeden KĂ€se und das war ihre einzige Geldquelle. Ohne die Hilfe ihrer Kinder hĂ€tte sie ihre Existenz in den Bergen schon lĂ€ngst aufgeben mĂŒssen, wie es viele ihrer ehemaligen Nachbarn bereits getan hatten. Die lebten jetzt bei Verwandten in SĂŁo Filipe und wenn sie das Geld zusammen hatten, wanderten sie in die Staaten oder nach Europa aus.

NatĂŒrlich beklagte sich Luisa bei jedem, der es hören wollte, ĂŒber ihr schweres Schicksal, aber insgeheim hatte sie ein Strahlen im Herzen und nach Brockton umziehen, wozu ihre Söhne sie immer wieder zu ĂŒberreden versuchten – nie und nimmer.

Oft saß Luisa am Abend auf der Bank vor ihrem Haus, blickte auf das Meer hinaus und beobachtete die Sonne, wie sie langsam hinter Brava unterging. Luisa wusste, dass sie wirklich ĂŒberhaupt kein Talent zum Singen hatte, aber hier konnte sie ja niemand hören und manchmal ließ sie ihrem GlĂŒck freien Lauf und sang aus voller Brust.

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Nita saß ebenfalls vor ihrem Haus und pulte Bohnen. Es war der letzte Sack mit getrockneten Bohnen vom vorigen Jahr. Landwirtschaft war auf dieser Seite von Fogo ein GlĂŒcksspiel. In diesem Jahr waren die tropischen Tiefdruckgebiete kurz vor dem Erreichen der Kapverden wieder nach SĂŒden abgedreht, der Regen blieb aus und der Passat wehte heiß und unbarmherzig aus Nordost. Die Ernte wĂŒrde ausfallen.

Aber Gott sei Dank hatte sie ja noch ihre Arbeit bei Fernando. Er war ein Freund ihres verstorbenen Mannes gewesen und so hatte sie eine Arbeit in SĂŁo Filipe im Lager des Minimercado Fernandinho bekommen. Nita konnte lesen und schreiben, fĂŒhrte die Wareneingangslisten und half beim AuffĂŒllen der Regale. Der Lohn war zwar ziemlich bescheiden, aber zusammen mit den kleinen BetrĂ€gen aus dem Anbau von Mais und Bohnen kam sie ĂŒber die Runden. Tiere hatte sie keine, das ließ sich nicht mit der Arbeit in der Stadt vereinbaren.

Richtig schwierig waren die letzten Jahre gewesen, in denen ihr Sohn Elton in die escola secundĂĄria gegangen war und Nita auch noch das Schulgeld aufbringen musste. Aber es hatte sich gelohnt. Elton hatte den Abschluss geschafft und wohnte jetzt in der Hauptstadt Praia bei Onkel Caruso und arbeitete in der Buchhaltung einer Versicherungsfirma, in der auch Caruso angestellt war.

Nita stellte die Schale mit den Bohnen beiseite und lauschte. Von Ferne hörte sie ein leises aber herzzerreißendes Schluchzen. Es schien von oben aus der Richtung von Luisas Haus zu kommen. Nita ging ein paar Meter den Pfad entlang in diese Richtung und dann war sie sich sicher. Es konnte nur Luisa sein, sonst lebte dort ja auch niemand. Nita ging zurĂŒck und wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Dann entschloss sie sich, zu Ramiro zu gehen.

Ramiro betrieb einen kleinen KrĂ€merladen an der oberen Ringstraße, in dem er auch wohnte und der praktisch immer offen war. Er hattte das notwendigste, was die Menschen im Umkreis von ein paar Kilometern benötigten, von Speiseöl bis zur Feldhacke und Zigaretten verkaufte er einzeln. Auch Bier und Grogue fehlten nie. Und Ramiro hatte ein Telefon, das einzige in der Gegend. In dringenden FĂ€llen konnte man in SĂŁo Filipe z.B. im Hospital anrufen und manchmal kamen sogar Anrufe von Verwandten aus Übersee, um eine Nachricht zu hinterlassen. Außerdem konnte man anschreiben lassen und fast alle hatten eine oder auch mehrere Seiten in der schwarzen Kladde, die Ramiro sorgsam in einer Schublade unter dem Ladentisch verwahrte, deren SchlĂŒssel er immer an einer kleinen Kette am GĂŒrtel trug.

Wenn am Nachmittag die Sonne hinter dem Haus verschwand, trudelten die MÀnner aus der Umgebung ein, um ein kleines GetrÀnk zu sich zu nehmen, Neuigkeiten auszutauschen und eine Runde bisca zu spielen. Und zu fortgeschrittener Stunde war die Stimmung meist ausgesprochen heiter.

Nita betrat den kleinen Laden und sah im ersten Moment fast nichts. Es war schummrig, weil Ramiro auch in dem Fenster neben der TĂŒr Konservendosen gestapelt hatte und daran mussten sich die Augen nach dem gleißenden Sonnenlicht erst einmal gewöhnen.

„Oi, Nita, was kann ich fĂŒr dich tun?“ Nita fragte, ob Luisa in letzter Zeit im Laden gewesen wĂ€re. „Nein, in dieser Woche war Luisa noch nicht da. Was gibt es denn?“ Nita erzĂ€hlte von Luisas Verzweiflung und erkundigte sich, ob jemand etwas genaueres wĂŒsste.

„Es ist wohl wegen Rui,“ mischte sich Jorge ein, der gerade auch den Laden betreten hatte. „Er hatte ja Krebs, ich glaube mit dem Darm. Und das schon ziemlich lange.“

„Ja, fĂŒrchterlich. Dagegen sind die Ärzte machtlos, sogar in den Staaten. Dabei war er doch erst fĂŒnfzig.“

Ramiro holte ein paar SchnapsglĂ€ser aus dem Regal hinter sich und schenkte ein. „Geht auf’s Haus.“

So gestÀrkt machte sich Nita wieder auf den Weg nach oben. Sie dachte an den Tod ihres Mannes und auch an den von Luisas Mann, der fast zur gleichen Zeit gestorben war. Und jetzt Rui. Schrecklich, schrecklich, schrecklich.

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„Schön, dass du mich mal besuchst, Nita. Komm rein, ich mache uns einen Tee.“ Luisa stellte den Korb mit den Eiern auf dem KĂŒchentisch ab, schöpfte Wasser aus der Tonne und goss es in den Wasserkessel. In der Feuerstelle war noch Glut und sie brauchte nur ein paar HolzstĂŒcke auflegen und den Kessel auf das Dreibein zu stellen.

„Wie geht’s denn Elton und Caruso? Sind sie noch bei dieser Firma?“ Nita hatte ihre Überraschung verdaut und erzĂ€hlte von der Karriere ihres Sohnes. Das war sowieso ihr Lieblingsthema. Und so entspann sich zwischen den beiden Frauen ein typischer Nachbarschaftsklatsch.

Als der dampfende Tee vor ihr stand, entschloss sich Nita zu der Frage, die ihr am meisten unter den NĂ€geln brannte: „Und Rui, gibt’s da was Neues?“ Luisa erzĂ€hlte, dass sie schon lĂ€nger nichts mehr gehört hĂ€tte, aber das sei ja ein gutes Zeichen. Die Ärzte hĂ€tten vor ein paar Monaten ein StĂŒck Darm entfernt und die Operation sei gut verlaufen. „Wenn etwas nicht in Ordnung ist, ruft einer meiner Söhne sicher bei Ramiro an und hinterlĂ€ĂŸt eine Nachricht.“

„Aber Nita, warum trĂ€gst du denn jetzt wieder schwarz?“ Die Neugierde ließ Luisa keine Ruhe.

„Weiß ich auch nicht, irgendwie war ich vorhin beim Anziehen mit den Gedanken ganz woanders.“

Dann wandten sich die Frauen wieder dem Thema Wetter zu und beklagten ausgiebig das Ausbleiben des Regens und das harte Los, das sie als verwitwete Landfrauen gezogen hatten.

Eine Antwort zu Luisa singt

  1. Gustavo sagt:

    Sehr schön erzÀhlte Geschichte. Danke!

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