Jedes Jahr brachten Luisas Kinder ein Fass von Brockton in den USA nach São Filipe auf Fogo auf den Weg. Es war die kostengünstigste Möglichkeit, ihre Mutter mit Dingen des täglichen Bedarfs zu versorgen. Bekleidung und Hausgeräte befanden sich genauso darin wie haltbare Nahrungsmittel und jede Menge Süssigkeiten. Entsprechend sehnsüchtig wurde das Schiff aus den „Staaten“ im Hafen Vale dos Cavaleiros erwartet.
In diesem Jahr 1989 war die Vorfreude besonders groß. Sohn Jaime hatte seine Mutter im Laden von Ramiro angerufen und unter anderem mitgeteilt, dass sich ganz unten im Fass ein Fernsehgerät befinden würde. Ganz unten, verborgen unter Cornflakes und Reis, Gardinen, Bettwäsche und diversen Blusen. Dort waren die Chancen am größten, dass es vom Zoll nicht entdeckt werden würde. Und tatsächlich wartete es schon am nächsten Tag zusammen mit Hunderten anderer Fässer in der Auslieferungshalle auf die Abholung.
Luisa hatte Nelito gebeten, mal nachzuschauen, ob ihr Fass schon freigegeben wurde. Sie hatte ihm etwas Geld mitgegeben. Damit sollte er die Hafengebühren bezahlen und das Fass dann nach Monte Alexo bringen. Nelito hatte einen klapprigen Toyota Hilux, war jeden Tag auf verschiedenen Routen zwischen Inhuco im Norden und Patim im Süden unterwegs und erledigte in dieser Region die Fracht- und Personenbeförderung. Das Fass war nicht zu übersehen, Luisas Kinder hatten in riesigen Buchstaben „Luisa, Monte Alexo, Ilha do Fogo“ draufgeschrieben
Am Nachmittag traf Nelito in Monte Alexo ein. Dass Luisa ein Fass erwartete, hatte sich herumgesprochen, und bei Nelitos Ankunft warteten die Nachbarn schon vor Luisas Haus und halfen beim Abladen. Auch alle Kinder aus der Umgebung waren versammelt und das waren nicht wenige. Die Verwandten in den Staaten kannten sich alle untereinander und viele der Nachbarn machten sich deshalb Hoffnung, dass vielleicht auch für sie etwas in dem Fass sein würde. Das Öffnen des Fasses war allerdings gar nicht so einfach, weil der Verschluß durch ein kleines Vorhängeschloß gesichert war, zu dem es keinen Schlüssel gab. Aber Nelito, der das Ganze neugierig beobachtete, hatte unter seinem Fahrersitz ein geeignetes Werkzeug, um dieses Hindernis zu beseitigen.
Ganz oben lag ein Brief „Liebe Luisa“. Sie betrachtete ihn und dann gab sie ihn ihrer Enkelin Valdira. „Das machen wir heute Abend.“ Luisa konnte weder lesen noch schreiben, aber ihre Enkelin ging schon in die dritte Klasse und würde ihr den Brief später vorlesen.
Als erstes kam Vorhangstoff zum Vorschein, aus dem sich sicher auch schicke Kleider nähen lassen würden. Dann ein Zauberstab – ein Küchengerät, das laut Hersteller das Kochen revolutionieren würde. Einziger Nachteil: er lief nur mit Elektrizität und die war – genauso wie fließend Wasser – noch nicht in der Region angekommen, in der Luisas Haus stand. Die Revolution würde also noch etwas auf sich warten lassen. Aber es war ein amerikanisches Markenprodukt und ließ sich sicher auf dem Markt in São Filipe gut verkaufen.

Dann folgten Handtücher und Bettwäsche und jede Menge Kleider, Hosen, Blusen und Turnschuhe, und einiges löste bei Luisa und ihren Nachbarn echtes Entzücken aus. Dass viele Kleidungsstücke aber gar nicht selbst getragen, sondern ebenfalls auf dem Markt in São Filipe für kleines Geld verkauft werden würden, musste man den Verwandten in den USA ja nicht unbedingt auf die Nase binden. Die Turnschuhe wurden aber wirklich dringend gebraucht. Die weit verzweigten Wege zwischen den einzelnen Häusern waren mit Geröll übersät und das Gehen mit den chinesischen Flip-Flops war wirklich mühselig.
Außerdem förderte Luisa Puppen, Stofftiere, Ferraris der Marke Matchbox und noch viel mehr Spielzeug zu Tage. An den meisten Stücken klebten kleine Zettel, die erklärten, für welches Kind es bestimmt war. Luisa gab die Sachen an Nita weiter, die las die Namen vor und jedesmal war das Gejohle groß.

Und ganz unten, eingewickelt in eine Wolldecke, lag er dann, der Microvision KTV 5 von 1985, ein Schwarz-Weiß-Minifernseher, bei dem die „5“ für die Bildschirmdiagonale in Zoll stand. Das Besondere an diesem Gerät war, dass es unabhängig vom Stromnetz betrieben werden konnte und seine Energie aus Batterien bezog, 9 Monozellen, die ebenfalls in einem Extrakarton beigefügt waren.
Nelito, der in technischer Hinsicht als am versiertesten galt, öffnete die Klappe des Batteriefachs und legte die Batterien in die drei dafür vorgesehenen Röhren ein. Ein paar Augenblicke nach dem Einschalten erhellte sich der Bildschirm auch, zu sehen war aber nur ein undefinierbares Gegriesel. Auch das Verstellen der Empfangsfrequenz mit dem seitlichen Drehknopf und der Wechsel von UHF zu VHF brachte kein brauchbares Resultat. Ramiro, der einen kleinen Laden unterhalb an der Ringstraße betrieb und sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen wollte, hatte sich das Ganze aus der zweiten Reihe angeschaut. Er meinte, dass es wahrscheinlich auch noch zu früh sei. Im Radio habe er mal gehört, dass das Fernsehprogramm erst ab sechs Uhr abends ausgestrahlt würde. Die Sonne hatte die Nachbarinsel Brava aber noch nicht erreicht, also konnte es auch noch nicht sechs Uhr sein.
Tatsächlich begann das Fernsehprogramm von TNCV im Jahr 1989 täglich um 18:00 Uhr mit dem Kinderprogramm. Um ca. 19:00 Uhr dann die erste brasilianische Telenovela, gegen 20:00 Uhr das Telejournal mit Nachrichten gesprochen von Margarida Moreira und ab 20:45 Uhr die zweite Telenovela. Um 22:00 Uhr war Schluß, es sei denn, der Sender spendierte noch einen alten Spielfilm als Zugabe.
Als der Sonnenstand erkennen ließ, dass es jetzt wohl 18:00 Uhr war, begann Nelito erneut, die Frequenzskala des Microvision KTV 5 zu durchsuchen und nach einigen Minuten flackerte ein sich hektisch bewegender Mickey Mouse über den Bildschirm, ein Anblick, der von frenetischem Jubel begleitet wurde.

Dann kam der Moment, dem alle entgegenfieberten: eine der 196 Folgen der brasilianischen Telenovela „Tieta“, von der alle schon gehört, die aber noch niemand gesehen hatte. Der Microvision KTV 5 stand auf einem wackeligen Holztisch, den Luisa nach draußen geräumt hatte und um ihn herum drängten sich die Nachbarn und auch Leute, die von soweit her gekommen waren, dass man sie eigentlich gar nicht mehr als Nachbarn bezeichnen konnte.
Und natürlich drängelten sich auch alle Kinder ganz nach vorne, obwohl man ihnen deutlich gesagt hatte, dass diese Sendung nicht für ihre Augen bestimmt war. Aber die Kinder zu verscheuchen würde bedeuten, dass man möglicherweise entscheidende Szenen verpasste und da musste die Pädagogik zurückstehen.
Das Sehen der brasilianischen Telenovelas war zu dieser Zeit und auch noch viele Jahre danach eine geradezu kultische Handlung. Während der Telenovela kam das öffentliche und private Leben fast komplett zum Erliegen. Ladengeschäfte wurden geschlossen und die Rezeptionen von Hotels und Pensionen waren vorübergehend unbesetzt, so dass Gäste notgedrungen mit dem Check-in oder Check-out warten mussten. Vor den Fenstern von Räumen in denen einer der wenigen Fernseher lief, bildeten sich große Menschentrauben und die Orte waren ansonsten wie ausgestorben. So etwas haben noch nicht mal die Krimiserien von Francis Durbridge im Deutschland der 1960er Jahre geschafft.
Die Telenovelas vermittelten ein konkretes, aber auch unrealistisches Bild vom Leben im Ausland und von dem Luxus, der dort erreichbar wäre, wenn man nur hart genug arbeitete. Alternative Informationsquellen gab es kaum und die spärlichen Berichte von bereits im Ausland lebenden Landsleuten waren eher beschönigend. Wer würde auch schon gerne zugeben, dass das neue Leben in der Fremde enttäuschend und die Emigration ein Fehler war.
Aber die Lebensbedingungen in der Heimat waren oft wirklich armselig und mit vielen, etwas vagen Hoffnungen im Kopf trafen eine große Zahl junger Männer die Entscheidung, ihre Familien zumindest vorübergehend zu verlassen und ihr Glück in Übersee zu suchen. Und wenn die Anpassung an die neuen Lebensbedingungen erfolgreich war, dann leisteten die monatlichen Überweisungen der Emigranten an ihre Familien auf den Inseln tatsächlich einen ganz wesentlichen Beitrag zu deren Wohlergehen und dem Bruttosozialprodukt der Kapverden.
Neben dem täglichen Ritual der Telenovela gab es im Jahr 1990 zwei weitere herausragende Ereignisse, die der Hütte von Luisa und dem Microvision KTV 5 einen großen Andrang bescherten: die Fußballweltmeisterschaft und der Besuch des Papstes João Paulo II auf den Kapverden.
Am 25. Januar 1990 kam Papst João Paulo II für 2 Tage auf die Kapverden und zelebrierte u.a. eine Messe in Quebra Canela in der Hauptstadt Praia. In seiner Ansprache ermunterte er das junge, erst seit 15 Jahren von Portugal unabhängige Land, die neu gewonnene Freiheit zu nutzen und auf dem Weg der Demokratie weiterzugehen. Und tatsächlich wurde noch im gleichen Jahr durch eine Verfassungsänderung das Mehrparteiensystem installiert und ein Jahr später wurden freie und demokratische Wahlen durchgeführt.
Und alle hielten den Atem an, als Andi Brehme am 8. Juli in Rom per Strafstoß das einzige Tor im Endspiel gegen Argentinien schoss und Deutschland Fußballweltmeister wurde.
… alle diese aufregenden Ereignisse verfolgten Luisa und ihre Nachbarn auf dem Microvision KTV 5, solange es die Batterien hergaben, Ramiro rechtzeitig für Nachschub sorgte und der Empfang nicht durch die ziemlich häufigen Senderausfälle unterbrochen wurde.